Die Zukunft ist für viele Unternehmen keine offene Straße, sondern eine Sackgasse. Vorwärts geht nicht, rückwärts auch nicht. Man optimiert hier noch ein bisschen, dort noch ein bisschen, doch es fühlt sich an wie eine Beruhigungspille – kein Schritt nach vorne, nur Stillstand mit schöner Fassade. Man spart verzweifelt Euro um Euro, Cent um Cent, und merkt kaum, wie dabei auch die Gedanken schrumpfen. Über Jahrzehnte gereifte Produkte, einst Stolz und Aushängeschild, führen die Unternehmen heute in eine existenzielle Frage: Was bleibt eigentlich noch?
In den Chefetagen sitzen Experten mit Strategieberatern und sagen: „Wir brauchen bessere Produkte.“ Auf den Shopfloors laufen Wertstrom-Analysen, um noch die letzte Verschwendung zu eliminieren. Doch Optimierung ist endlich. Produkte sind nur Momentaufnahmen. Wer glaubt, damit eine Brücke in die Zukunft zu schlagen, irrt gefährlich. Denn es ist nicht das nächste Produkt, das entscheidet. Es ist die Fähigkeit, morgen ein ganz anderes hervorzubringen.
Praxisbeispiel – Automotive (Tempo als Fähigkeit): Renault kündigt an, die Entwicklungszeit von drei auf zwei Jahre zu drücken – gestützt durch Simulation/Digital Twins und verschlankte Architekturen. Das ist keine Kosmetik an Produkten, sondern Aufbau von Fähigkeit. ReutersFinancial Timesautomotivemanufacturingsolutions.com
Studie – Strategie (Warum „Fähigkeit“ > Produkt): In der Forschung heißt das Dynamic Capabilities: dauerhaft überleben, weil man früh erkennt (sensing), zugreift (seizing) und neu konfiguriert (reconfiguring). Fundament seit Teece (SMJ 2007). Wiley Online Library
Wir hinken hinterher – nicht, weil uns Ingenieure fehlen oder Prozesse. Sondern weil wir im Kopf verschlossen sind, weil wir uns an „die guten alten Zeiten“ klammern und über den Wandel klagen. Der Markt dreht längst schneller, als wir hinterherlaufen können. Vor zwanzig Jahren brauchte die Automobilindustrie noch 55 Monate, um ein Modell auf die Straße zu bringen. Heute sind es 35. Und es geht nicht mehr um die Karosserie, nicht um „German Quality“ allein. Es geht um das Gesamtpaket: Software, Unterhaltung, Konnektivität auf Rädern.
Doch wenn es eng wird, greifen wir immer wieder zum gleichen Hebel: Kosten runter. Und am liebsten bei den Menschen. Wir rechnen sie zur „Nutzkraft“ und wundern uns, dass die Ideen verschwinden. So sägen wir uns selbst die Äste ab, auf denen wir sitzen.
Praxisbeispiel – Software bremst Hardware: Der Volvo EX90 wurde wegen Software verschoben; erst 2024/25 rollten die ersten Fahrzeuge. Lektion: Ohne Software-Fähigkeit hilft die beste Hardware nicht. Reuters+1,
Studie/Markt – SDV wird Kern des Pakets: „Software-Defined Vehicle“ wächst rasant (Prognosen bis 2030: hunderte Mrd. USD). OTA, Infotainment, Connectivity treiben den wahrgenommenen Nutzen – und verlangen Software-First. MarketsandMarketsGlobal Market Insights Inc.TechRadar
Es ist absurd: Alle sagen „Menschen sind wichtig“ und „Kultur ist entscheidend“. Aber wenn es ernst wird, entscheiden wieder ein paar wenige, und die anderen sollen ausführen. Damit zerstören wir das, was wir am dringendsten brauchen: die Fähigkeit, als Organisation zu lernen.
Fähigkeit heißt nicht, ein weiteres Handbuch zu schreiben. Es heißt, schwache Signale wahrzunehmen, bevor es zu spät ist. Es heißt, Entscheidungen dort zu treffen, wo sie entstehen, nicht in fernen Gremien. Es heißt, so schnell zu lernen, dass wir Fehler nicht als Risiko fürchten, sondern als Treibstoff nutzen. Und es heißt, Räume zu schaffen, in denen Unterschiedlichkeit kein Risiko ist, sondern die Quelle für den Gedanken, auf den keiner von allein gekommen wäre.
Eine Organisation lebt nicht von Anweisungen. Sie lebt von Überraschungen.
Studie – Teamwirksamkeit: Googles Project Aristotle identifiziert psychologische Sicherheit als stärksten Treiber wirksamer Teams; Folgearbeiten zeigen Zusammenhänge mit Lernen, Kreativität und Leistung. ReworkThe Open Psychology JournalPMC
Praxisbeispiel – Dezentral wirkt: Buurtzorg (NL) mit selbstorganisierten Pflegeteams: ~30 % höhere Patientenzufriedenheit, weniger Overhead/Fehlzeiten – weil Entscheidungen nah am Problem fallen. Harvard Business School LibraryPMCCommonwealth Fund
Wir behandeln Kultur oft wie ein Software-Update. Ein Programm, ein Poster, ein Leitbild, das man „implementiert“. Doch Kultur ist kein Update, sondern ein Boden. Sie entsteht aus dem, was wir zulassen, was wir bestrafen, was wir jeden Tag tun.
Eine zukunftsfähige Kultur ist kein Schwarz-Weiß-System. Sie hält Widersprüche aus. Sie lässt mehr Stimmen zu, als bequem ist. Sie setzt auf Zuhören und Verstehen, auch wenn es länger dauert und anstrengender wird. Und sie bleibt dran, auch wenn die Welt lauter, härter, extremer wird.
Man kann Kultur nicht starten. Man kann sie nur pflegen.
Studie – Begriffskern: Schein beschreibt Kultur als Ebenen von Artefakten, Werten, Grundannahmen. Wer nur an Artefakten dreht (Poster), ändert nichts. ia800805.us.archive.org
Praxisbeispiel – Kulturwende @Microsoft: Nadella schiebt die Firma vom „know-it-all“ zum „learn-it-all“ – mit offenem Ökosystem (GitHub), Cloud-Fokus, Lernmindset; vielfach dokumentiert. TIMEBusiness Insider
Natürlich müssen Unternehmen effizient sein. Aber wenn wir nur noch sparen, übersehen wir das Wesentliche. Wir bauen Organisationen, die äußerlich glänzen, aber innerlich ausgehöhlt sind. Schlank, aber leer. Schnell, aber ohne Richtung.
Wir sterben nicht an Kosten. Wir sterben an Ideenarmut.
Studie – Balance statt Dogma: Ambidextrie (O’Reilly/Tushman): Erfolgreiche Unternehmen organisieren Optimierung und Erneuerung gleichzeitig – reine Effizienzpfade erodieren Zukunft. Harvard Business School
Praxisbeispiel – Erlöse jenseits der Hardware: Ford Pro meldet ~500.000 bezahlte Software-Abos (2023), Margen >50 %; Ziel 2.000–5.000 USD/Jahr je Fahrzeug über Software/Services. Fähigkeit wird zum Geschäftsmodell. Reuters
Gerade hierzulande stoßen wir an unsere Grenzen. Wir haben einen Fetisch für Planung, für Hierarchie, für Absicherung. Wir fürchten den Gesichtsverlust stärker als den Marktverlust. Das Problem: Diese Haltung schützt nicht mehr. Sie bremst. Während andere ausprobieren, diskutieren wir, ob es sich lohnt. Während andere Fehler machen und daraus lernen, zerbrechen wir uns den Kopf über die Risiken, bis der Moment vorbei ist.
Die größte Konkurrenz sitzt nicht in China oder den USA. Sie sitzt in uns selbst.
Studie – Kulturprofil: Deutschland hat eine hohe Unsicherheitsvermeidung (UAI≈65) – Bedürfnis nach Planbarkeit, Regeln, „erst Sicherheit, dann Schritt“. Das hilft Qualität – und bremst Offenheit fürs Ungewisse. Geert Hofstede
Studie – Gründungsmentalität: Laut GEM 2024/25 ist die Angst vor Scheitern weltweit gestiegen (49 % würden aus Angst nicht gründen). Das Muster verstärkt die Zurückhaltung – auch in Europa. GEM Global Entrepreneurship Monitor
Produkte verschwinden. Technologien veralten. Märkte drehen sich, bevor wir die Landkarte gezeichnet haben. Was bleibt, ist die Fähigkeit einer Organisation, immer wieder neu zu denken, zu lernen, zu reagieren.
Kultur ist kein Projekt. Sie ist das Betriebssystem des Lebendigen. Sie entscheidet, ob aus einer Krise eine Sackgasse wird – oder ein Neuanfang.
Wer heute nur an Kosten schraubt, zerstört den Boden, auf dem morgen überhaupt noch etwas wachsen könnte. Wer die Fähigkeit seiner Organisation pflegt, schafft die einzige Ressource, die niemals knapp wird: Ideen.
Studie – Schlussakkord: Die Literatur zu Dynamic Capabilities zeigt konsistent: Unternehmen sichern Zukunft, wenn sie schneller erkennen, entscheiden, neu konfigurieren als der Markt sie zwingt. Wiley Online Library